Ein Tag in der Kinderkunstschule

Es ist Montagmorgen, 8:35 Uhr. Im Eilschritt verlassen wir die Eingangstür unseres Hauses. Ich ziehe den Reisverschluss meiner Jacke noch ein Stückchen höher, denn vor uns liegt ein kleiner Marsch durch die Gassen Kara-Baltas und morgens ist es hier doch noch recht kühl.
Begrüßt werden wir, wie jeden Morgen, von den Straßenhunden, die am Straßenrand entlang huschen und den zahlreichen Hähnen, welche wir nur über Zäune und Mauern hinweg hören können. Wie immer sind wir knapp dran und versuchen so schnell wie möglich die matschigen und teilweise noch vereisten Wege unbeschadet hinter uns zu bringen.
Nebenbei gehen wir nochmal unsere Pläne für den anstehenden Unterricht durch. Hausaufgabe von letzter Stunde besprechen, letztes Thema wiederholen und neue Grammatik plus passende Vokabeln einführen. Heute ist das Thema der ersten beiden Englischgruppen das Verb „to be“ und Possessivpronomen. Alles klar, jetzt kann nichts mehr groß schiefgehen. Ab und zu hebe ich dann doch mal den Blick von den Eisflächen vor meinen Füßen und erhasche einen Blick auf die Berge, die ich über einen Zaun hinweg deutlich erkennen kann. Wie es wohl aussehen wird, wenn die Berge nicht mehr komplett vom Schnee bedeckt sind?
Schließlich erreichen wir um Punkt 9:00 Uhr (manchmal auch 9.01 Uhr…) die Kinderkunstschule, welche sich direkt neben der vierten Schule befindet. In Kirgistan sind die staatlichen Schulen nämlich durchnummeriert.
Im Flur erwarten uns schon die ersten Kinder, die vor unserem Raum herumwuseln. Inzwischen hat sich eine relativ konstante Gruppe von ca. 15 Kindern etabliert und nur ein oder zwei neue Gesichter sind dabei. Bin ich froh, dass wir das völlige Chaos der ersten Wochen nun endlich hinter uns gelassen haben!
Schon geht es los, mit einem gemeinsamen „Good morning!“ startet die Stunde. Andrej erklärt den Kindern auf Russisch, worum es heute gehen soll und wiederholt ein paar Ausdrücke und Sätze aus den letzten Stunden, während ich schon mal die ersten Dinge an die Tafel schreibe. „Okay everyone, listen and repeat!“ Inzwischen wissen alle schon sehr gut, was das bedeutet. Zusammen gehen wir die neuen Wörter an der Tafel durch, ich spreche vor, die Kinder sprechen nach. Die Farben kennen sie schon, also benennen wir als nächstes einmal die Dinge im Raum und deren entsprechende Farbe. Zum Abschluss spielen wir noch ein kleines Spiel im Stuhlkreis, das sich auch um Farben dreht. Und so ist es ruck zuck schon kurz vor zehn. Ein Minütchen Zeit, um zu verschnaufen, bevor die nächste Gruppe hereinkommt und der ganze Ablauf nochmal von vorne anfängt.
Unsere ersten beiden Englischgruppen sind nämlich immer ungefähr auf dem gleichen Stand, während unsere anderen vier Englischkurse jeweils auf unterschiedlichen Leveln sind.
Während der ganzen Zeit sitzen wir und die Kinder in Winterjacken da, denn der einzelne kleine Heizkörper reicht dann doch nicht, um das Klassenzimmer zu erwärmen. Ein Grund mehr, weshalb ich mich jetzt schon auf den Sommer freue!
Bald ist auch die zweite Stunde vorbei und wir haben nun etwas Zeit, um uns für den nächsten Unterricht vorzubereiten. Ohne Materialien und nur einer sehr begrenzten Möglichkeit, etwas auszudrucken, ist hierbei Fantasie gefragt! Oft versuchen wir schlicht, an unsere eigene Schulzeit zurückzudenken und uns daran zu erinnern, welche Methoden und Spiele uns damals besonders gefallen und geholfen haben.
Nach unserer Grübelphase machen wir uns schließlich auf den Weg, an der Moschee vorbei, zu unserem Lieblingsrestaurant „Chaichana“. Hier verbringen wir meistens unsere Pause. Es sind fast alle Tische belegt, so wie immer zur Mittagszeit. Denn mit seiner umfangreichen, erschwinglichen, aber vor allem unfassbar leckeren Küche ist dieses Restaurant der absolute Renner in Kara-Balta.
Nachdem wir unsere Portionen wegschnabuliert haben, natürlich mit schwarzem Tee dazu, geht es wieder zurück zur Schule. Während Andrej Richtung Gitarrenunterricht geht, mache ich mich auf zum Etnoraum. Hier lernen die Kinder von der Etnolehrerin Sabira, traditionelle Kunst herzustellen. Oft arbeiten wir mit Nadel und Faden und benutzen viel Filz, Wolle, dünne Holzstäbchen und Zeitungspapier.
Heute stellen wir einen Wandschmuck her und nachdem die Mädchen nach und nach eingetroffen sind, machen sich alle gemeinsam begeistert an die Arbeit. Wir rollen die Holzstäbchen in eine dünne Schicht Rohwolle ein und binden sie dann mit einer speziellen Technik zusammen. Die Mädchen sind teilweise schon die absoluten Profis und zeigen mir kichernd, was ich zu tun habe.
Die Kinder unterhalten sich untereinander und mit Sabira eigentlich nur auf Kirgisisch und nur ab und zu ein bisschen auf Russisch. Aber zum Glück ist für die Kunst eh nicht viel Reden nötig und dass ich nicht so viel verstehe, macht mir nichts aus. Man kann sich auch anders verständigen und gleichzeitig lassen sich die Kinder keine Gelegenheit entgehen, mir neue kirgisische oder russische Wörter beizubringen. Auf jeden Fall fühle ich mich immer wohl und das gemeinsame Werkeln macht mir sehr viel Spaß.
Ich schaue auf die Uhr und merke überrascht, dass ich schon fast zu spät zur nächsten Stunde kommen werde. Denn jetzt ist Deutschunterricht angesagt! Schnell verabschiede ich mich, greife meine Sachen und renne die Treppe hinunter zu unserem Unterrichtsraum. Dort sind schon einige Schüler*innen und begrüßen mich mit einem „Hallo, wie geht es dir?“.
Ein paar von ihnen sitzen hier schon seit einer halben Stunde oder auch einer Stunde, obwohl der Unterricht offiziell erst jetzt los geht. Und manche werden erst in zehn bis zwanzig Minuten kommen. Denn das mit der Zeit ist hier so eine Sache. Oft wundern wir uns, zu was für seltsamen Zeiten Schüler*innen kommen. Für die Menschen hier ist es anscheinend kein großes Ding für längere Zeit zu warten oder um einiges zu spät zu kommen. Man kommt eben, wenn es passt und erspart sich sorgenvolle Gedanken und gegenseitige Vorwürfe.
Auch wenn ich erst seit knapp über drei Monaten hier bin, ist mir der Unterschied zur deutschen Lebensweise in dieser Hinsicht schon so sehr bewusst geworden. In was für einer extremen Leistungsgesellschaft wir in Deutschland doch leben! Jede Minute, die man zu spät kommt, wird notiert. Wenn nicht auf Papier, dann wenigstens in Gedanken. Und durchgehend wird man geprüft, vor allem als Kind und Jugendliche*r. Noch nicht mal im Kunst- oder Musikunterricht kann man dem prüfenden Blick entgehen und seiner Kreativität freien Lauf lassen. Stets muss eine Zahl draufgestempelt werden, die einem zeigen soll, wie gut oder schlecht, kreativ oder einfallslos man ist. Und momentan genieße ich diese viel entspanntere Lebenshaltung hier in Kirgistan einfach sehr, ohne die bedrückende Gegenwart des prüfenden Blicks um mich herum. Hier muss ich nicht perfekt sein, niemand muss perfekt sein und man arbeitet mit dem, was man hat.
Natürlich gibt es, wie so oft, zwei Seiten. Dass sich Pläne in letzter Sekunde ändern und man sich nicht unbedingt darauf verlassen kann, dass jemand pünktlich, oder überhaupt kommt, nervt mich regelmäßig. Mit der Lockerheit kommt nun mal oft auch das Chaos. Naja, jedenfalls könnten Kirgis*innen und Deutsche in beide Richtungen noch viel voneinander lernen.
Doch jetzt ist gerade keine Zeit meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, denn Aidana, eine Deutschlehrerin und inzwischen gute Freundin, die seit ungefähr einem Monat zusammen mit uns unterrichtet, möchte mit der Stunde beginnen. Sie erklärt die Grammatik und wir üben danach die Aussprache neuer Begriffe und machen zusammen einige Aufgaben. Es wird immer viel gelacht und von den Aktionen erzählt, die wir schon mit unseren zwei Deutschkursen gemacht haben oder welche als nächstes anstehen. Sei es zum Beispiel von der Valentinsparty, als der Raum mit vielen Blumen und Papierherzchen geschmückt war, oder dem kleinen Ausflug durch die Stadt neulich. Es ist immer irgendwas los und ich habe alle Teilnehmer*innen inzwischen sehr lieb gewonnen.
Bald trudeln auch die Leute aus unserem zweiten, fortgeschrittenen Kurs ein, der Übergang ist fließend. Hier verfügen alle über gute Grundkenntnisse der deutschen Sprache und wir können schon mit komplexeren Themen arbeiten. Wir beginnen, Vokabeln zum Thema „Einkaufen“ zu lernen und erarbeiten danach in Kleingruppen kleine Szenen. Andrej, Aidana und ich machen auch mit, denn in diesem Kurs gibt es nicht das typische Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnis. Wir sind inzwischen eine Gruppe von engen Freund*innen geworden, in der wir uns einfach gegenseitig neue Dinge beibringen. Denn genauso, wie ich ihnen meine Muttersprache näher bringe, bringen sie mir während des Unterrichts und auch außerhalb Russisch und Kirgisisch bei und zeigen mir ihre Kultur. Wir machen sehr vieles zusammen und einige von ihnen zähle ich inzwischen zu meinen besten Freund*innen, was mich unglaublich glücklich macht.
Nach und nach stehen wir alle von unseren Stühlen auf und die Gespräche werden im Gehen weitergeführt. Es ist inzwischen kurz nach vier und mein Arbeitstag ist zu Ende. Kurz bleiben wir noch vor der Deutschlandkarte stehen, die rechts neben der Tafel hängt, und reden über die Regionen, aus denen Andrej und ich kommen und die Städte, welche die anderen gerne mal besuchen möchten. Schließlich laufen wir gemeinsam los bis zur Moschee, wo sich die Gruppe langsam zerstreut. Nachdem wir uns verabschiedet haben, machen wir uns mit ein paar Leuten, die in die gleiche Richtung müssen, auf zum Bazar nahe unserer Wohnung, um frisch fürs Abendessen einzukaufen. Diese Strecke dauert nun um einiges länger als heute Morgen, denn jetzt unterhalte ich mich mit den anderen über dies und jenes.
Morgen steht wieder Komuzunterricht und abends noch Taekwondotraining an und darauf freue ich mich jetzt schon. Während ich über die inzwischen entstandenen Pfützen hinweghüpfe, schleicht sich ein Schmunzeln auf meine Lippen.

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für diese lebendigen und humorvollen Einblicke in Euren kara-baltischen Alltag! 🤗 Ich höre in Gedanken die Hunde bellen, die Hähne krähen und die Kinder lachen. Ich sehe die kirgisischen Berge, die eifrigen Gesichter, die gebastelten Kunstwerke und das Treiben auf dem Bazar. Und ich spüre ganz deutlich, dass Ihr dort gerade am richtigen Ort seid und unglaublich viel voneinander lernen könnt. Und freue mich jetzt schon auf den nächsten Bericht!! 💁🏻‍♀️

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert